Volkmar Sigusch

von DPG

Hier gründete Sigusch das Institut für Sexualforschung, das nicht nur eine wichtige klinische Anlaufstelle für bis dato unterversorgte Patienten mit sexuellen Störungen unterhielt, sondern gemeinsam und in enger Kooperation mit dem Hamburger Institut auch zu einem intellektuellen und diskursstiftenden Zentrum Deutschlands wurde. Volkmar Sigusch war ein großer Netzwerker und ein immens fleißiger Wissenschaftler. Er war Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Mitbegründer der International Academy for Sex Research und Mitherausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung, der Beiträge zur Sexualforschung und der Archives of Sexual Behavior. Er veröffentlichte unzählige Aufsätze und mehrere Dutzend Monographien. Zu seinen wichtigen Büchern gehören neben dem zu einem Standard gewordenen Lehrbuch Sexuelle Störungen und ihre Behandlung (1. Aufl. 1996): Vom Trieb und von der Liebe (1984), Die Mystifikation des Sexuellen (1984), Sexuelle Welten. Zwischenrufe eines Sexualforschers (2005) und Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion (2005) und dann vor allem auch die zwei monumentalen historischen Arbeiten: Geschichte der Sexualwissenschaft (2008) und Personenlexikon der Sexualforschung (2009; als Hsg. mit Günter Grau). 

Verwurzelt im dialektischen Materialismus war Sigusch intimer Kenner der kritischen Theorie wie der Arbeiten Foucaults. Die fortwährende Befragung des eigenen Standpunkts war ihm Selbstverständlichkeit, und er war vehementer Verfechter einer Position, die er „kritische Sexualwissenschaft“ nannte. Dabei half ihm, dass er ein exzellenter Kenner und Historiograph der Geschichte der Sexualwissenschaft war. Einseitig empirisch-positivistischen Strömungen stand er genauso ablehnend gegenüber wie radikal-konstruktivistischen Positionen. Simplifizierende und affirmative Tendenzen bekämpfte er, wo er konnte. Sein Verständnis von Sexualität war komplex und durch und durch aporetisch, sein Verständnis von Sexualwissenschaft politisch und parteiisch: Wortgewaltig wie er war, prangerte er Mechanismen von Unterdrückung, Ausbeutung (auch kapitalistischer) und Exklusion an und stand immer auf Seiten der Menschen, die als Folge gesellschaftlicher Gewalt an ihrer Sexualität litten.

2019 erhielt Volkmar Sigusch den Sigmund-Freud-Kulturpreis der DPG und der DPV. Sein Werk ist von Anfang an tief in einem psychoanalytischen Denken gegründet gewesen. Das beginnt damit, dass er Freud darin folgt, Sexualität durch und durch triebhaft zu denken. Im Vergleich zu Freud hat er allerdings ein stärker gesellschaftlich geprägtes Triebverständnis und misst triebhafter Sexualität ein größeres emanzipatives Potential bei. Sigusch hat sich intensiv mit der Psychoanalyse befasst, hat mit ihr gedacht und gearbeitet, hat sie aber auch schonungslos kritisiert, wo er sie daran beteiligt sah, Herrschaftswissen aufzustellen und Abweichungen zu pathologisieren und so für Stigmatisierung und Ausgrenzung zu sorgen. 

Wer Volkmar Sigusch einmal persönlich erlebt hat, war beeindruckt von seiner Energie und Verve. Nie war schwer, in seinen jungenhaft-neugierigen Zügen den urkindlichen Sexualforscher zu erahnen. So zurückgezogen er sein konnte, war er im Gespräch immer voll und ganz da, fast schon als fürchte er beständig den Moment, mit dem das Wahrgenommen-Werden für alle Zeit verschwinden würde.  

Volkmar Sigusch wird die Geschichte der Sexualität jetzt nicht mehr weiterschreiben, aber er hinterlässt uns ein reiches literarisches Oeuvre, das aktuell ist wie eh und je. Ich denke dankbar an meinen früheren Chef, der nicht nur mich Sexualität kritisch sehen gelehrt hat.

Lutz Garrels

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